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„Ein ganz anderes Verständnis von Profi-Sport in dieser Stadt“

29.05.2022

Andreas von Seggern, Christopher Deeken, Torben Rosenbohm und Florian Isensee.

Ist über Rickey Paulding bereits alles gesagt worden? Mitnichten! Diese für Oldenburg herausragende Persönlichkeit war für den Isensee Verlag und die EWE Baskets Oldenburg als Herausgeber Grund genug, ein Buch über Rickeys 15 Jahre für ein und denselben Bundesliga-Club aufzulegen. Roland Schekelinski, Pressesprecher der EWE Baskets, hat sich mit Verleger Florian Isensee und dem Autoren-Team Andreas von Seggern, lange Jahre Direktor des Oldenburger Stadtmuseums, Torben Rosenbohm, von 2003 bis 2014 Pressesprecher der EWE Baskets, und Christopher Deeken, bis 2019 Redakteur in der NWZ-Sportredaktion, zum Interview über das am 4. Juni im Handel erscheinende Buch „Rickey Paulding“ getroffen.

Zunächst einmal Glückwunsch zu diesem lesenswerten und gelungenen Werk! Was hättet Ihr denn vor fünf Jahren gesagt – also zu Rickeys zehnjährigem Jubiläum – wenn man Euch aufgefordert hätte? Schreibt doch mal ein Buch über ihn! Geschichten gab es zu dem Zeitpunkt ja schließlich schon in Hülle und Fülle.

Andreas von Seggern: Ich war mit Florian Isensee schon zum besagten Zeitpunkt zu diesem Projekt im Gespräch. Wir haben damals schon die Ahnung gehabt, Rickey bleibt uns ja eh noch ein bisschen erhalten. Lass‘ uns mal abwarten.

Florian Isensee: Ich fand die Geschichte schon vor fünf Jahren interessant. Du erlebst mit Rickey auch die Geschichte der EWE Baskets. Das wird in diesem Buch ganz deutlich. Eine Dekade in der Geschichte des Clubs – hätte ich spannend gefunden. Das Problem wäre damals gewesen: Was kommt in Rickeys Karriere an großartigen Dingen noch dazu? Und: Den Zeitpunkt für dieses Buch zu erwischen, war ohnehin schwierig. Es hätte ebenso alles anders laufen können. Eine schwere Verletzung und er hätte nie wieder ein Spiel machen können. Dann hätten wir den Punkt gar nicht so perfekt treffen können wie jetzt.

Im Buch erfährt man ja, warum Rickey sich nie schwer verletzen konnte.

Isensee (lacht): Genau! Es konnte nicht passieren.

Ich stelle Euch nicht die Frage: Warum sollte man das Buch lesen? Ich sage: Das Buch lebt von seinen zahlreichen kleinen Anekdoten, die verlässlich regelmäßig im Lesefluss auftauchen. Und es ist gut beobachtet und aufgeschrieben worden. Ich stelle die Frage daher anders: Welche Anekdoten haben es nicht ins Buch geschafft?

Isensee: Alle wichtigen Anekdoten sind drin!

Torben Rosenbohm: Die Anekdoten, die es nicht ins Buch geschafft haben, wären die von anderen Spielern gewesen. Hier erkennt man in vielen Details, warum sich Rickey so sehr von anderen Protagonisten unterscheidet und so besonders ist. Er stand eben nicht wegen einer kaputten Glühbirne im Büro. Aber ich will jetzt nicht zu viel verraten…

Die Zeit ab Mitte 30 bis ins Karriereende auf so einem hohen individuellen Niveau gestalten zu können - da fällt mir spontan nur der legendäre Eishockey-Spieler Fetissow ein, der im Alter von 38 Jahren endlich seinen NHL-Traum erfüllen durfte und mit 39 und 40 Jahren mit den Detroit Red Wings sogar noch zwei Mal Stanley-Cup-Sieger wurde. Was ich damit sagen will: Es ist ja nicht so, als ob Rickey seine letzten Jahre sportlich verwaltet hätte. Eher im Gegenteil.

Christopher Deeken: Bei herausragenden Sportlern gerät man ja leicht in die Versuchung, die Karriere im Nachhinein ein wenig zu glorifizieren und dabei manch schwächere Phase auszublenden. Bei Rickey besteht diese Gefahr nicht - er war über all die Jahre einfach wirklich so gut!

 

Rosenbohm: Und Rickey ist immer besser geworden. Er hat immer noch irgendeinen Aspekt in seinem Spiel dazu bekommen. Am Anfang war sehr viel Athletik, dann wurde der Wurf immer verlässlicher, das Spielverständnis wurde besser, er hat seine Rolle als Kapitän von Jahr zu Jahr zu Jahr immer ernster genommen. Selbst mit 39 Jahren war er alles, aber mit Sicherheit keine lahme Ente. Und: Das hätte er sich nicht angetan, wenn dem so gewesen wäre.

Woher hat Rickey die Motivation genommen? Vermutlich hätte es ihm niemand übelgenommen, wenn er zum Schluss einen Gang runter geschaltet hätte. Oder sein Spiel umgestellt hätte, so wie fast jeder Spieler eigentlich, spätestens wenn er über die 34, 35 Jahre hinausgeht.

Rosenbohm: Das hätte ihm keiner übelgenommen außer ihm selbst. Rickey hatte stets hohe sportliche Ziele. Er wollte wirklich immer jedes Spiel gewinnen.

Deeken: Ein weiterer Grund, der im Buch zur Sprache kommt: Sein Antrieb, anderen zu helfen und für sie da zu sein. Es hat ihn innerlich fast zerfressen, dass er ausgerechnet im BBL-Finale 2013 angeschlagen passen musste und seinen Teamkollegen auf dem Feld nicht beistehen konnte. Predrag Krunic hat mir mal erzählt, dass Rickey sich insbesondere für neue Mitspieler immer sehr eingesetzt hat. Für Predrags Geschmack fast schon zu viel, wenn Rickey in der Saisonvorbereitung aus Sicht des Trainers den Fokus eher auf sich selbst legen sollte. Allerdings hat Rickey sehr intensiv an sich gearbeitet, damit er eben für die Mitspieler und sein Team eine große Stütze sein kann, auf die man sich zu 100 Prozent verlassen kann.

Isensee: Es ist faszinierend, wie bis zuletzt seine Athletik auf einem sehr hohen Level war, wenn auch vielleicht ein paar Prozentpunkte gegenüber dem Rickey von 2007 gefehlt haben mögen. Wie er immer noch an Gegenspielern vorbeikam, dass er nicht beliebig gestoppt werden konnte. Das finde ich am beeindruckendsten.

Rosenbohm: Er hat mal gesagt, dass er erst auf dem Feld zum Biest wird. Daniel Strauch hat mal mir gegenüber durchblicken lassen, früher wäre Rickey im Kraftraum nicht unbedingt an vorderster Front dabei gewesen.

Ich weiß nicht, wie es ganz früher war. In den letzten Jahren jedoch konnte ich in den Trainingslagern durchaus folgendes beobachten: Im Kraftraum hat Rickey da ordentlich Vollgas gegeben. Vor allem wohl, weil er für sich erkannt hatte, dass er es auch machen muss.

Von Seggern: Und diese Einstellung muss du erstmal mitbringen. Das spricht ja auch Bände.

Ist es das schon, wofür man ihm das Etikett „Perfekter Teamkollege“ anheften kann? Oder gibt es da noch was anderes?

Rosenbohm: Diese Bodenständigkeit. Sich bewusst für einen Ort entscheiden: So, hier bleibe ich jetzt und mache nicht den Tingeltangel-Bob, der morgen in Frankreich und übermorgen in Italien unterwegs ist und später dann an den großen Geldtöpfen in Russland gräbt. Das hat ihn ja ganz offensichtlich nicht angetrieben. Glücklicherweise!

Wir produzieren für unsere Club-Medien mehrere Video-Inhalte rund um Rickeys Karriereende und sprechen mit vielen Zeitzeugen. Der TV-Kommentator Arne Malsch hat dabei ein schönes Bild gezeichnet: „Wenn Rickey deutsch wäre, wäre er norddeutsch.“

Deeken: Das passt!

Isensee: Eine schöne, treffende Formulierung!

Andreas, Du machst eine sporthistorische Einordnung der Figur Paulding und stellst die Helden-Frage. In Teilen liest sich Dein Beitrag fast wie eine Verteidigungsschrift. Du schreibst, Rickey ist der beste Sportler, den Oldenburg jemals gehabt hat. Hattest Du das Gefühl, dass man für den Standpunkt, ihn als Größten Sporthelden Oldenburgs zu titulieren, hart argumentieren muss?

Von Seggern: Ja, ich denke schon. Diese Basketball-Familie ist über die Jahre hinweg auf eine beträchtliche Größe gewachsen. Der Fußball genießt jedoch große Aufmerksamkeit und einige meinen, dass Basketball doch nur Show wäre. Das nehmen hier alle am Tisch auf die eine oder andere Art bestimmt selbst wahr. Und es gibt tatsächlich noch Oldenburger, die mit Rickey Paulding wenig anfangen können. Deshalb ist es wichtig, dieses Phänomen mal einzuordnen. Das war der Antrieb für dieses Kapitel im Buch, auch anhand anderer Sportarten wie Fußball und Handball aufzuzeigen, dass Rickey einfach alle überragt in vielerlei Hinsicht: von seiner Bodenständigkeit bis hin zum sportlichen Erfolg und seinem Sportsgeist, den er ausstrahlt. Zumal er aus dem Ausland kommt, das macht es nochmal besonders, dass er sich hier mit den Menschen und der Region so identifiziert. Die einzige Figur, die neben Rickey auf dieser Stufe hätte stehen können, ist noch vor den größten Erfolgen und dem Höhepunkt der Laufbahn dann eben gegangen. Das war Fiffi Gerritzen. Der hätte diesen Stellenwert haben können. Und bei aller Vereinnahmung hat Gerritzen zwei, drei Jahre beim VfB großartig gespielt, aber den Großteil seiner Karriere und seinen Höhepunkt eben mit Preußen Münster erlebt. Insofern ist selbst er nicht mit Rickey zu vergleichen. Paulding ist eine einmalige Geschichte, die es so schnell nicht wieder geben wird.

Wenn einige Rickey absprechen würden ein echter Oldenburger zu sein - würdet Ihr das als ungerecht empfinden?

Von Seggern: Interessant war ja die kurz aufflammende Diskussion um eine Ehrenbürgerschaft. Ich hätte sofort eine Petition unterschrieben „Ehrenbürger Rickey Paulding“, weil er einfach – wie man hier sagen würde – eine ans-tändige, integere Person ist. Das ist ja das Selbstbild, was viele Oldenburger von sich selbst haben und die Stadt auch nach außen gibt, nicht zu Unrecht, wie ich finde. Das passt schon: Rickey ist bodenständig, er kommt aus einer Metropole wie Detroit, fühlt sich aber hier wohl und identifiziert sich mit der Stadt. Trotz allem Provinzgeheuls über Oldenburg, das mitunter aus größeren Städten erschallt, sagen sich die Menschen hier: Pffft, das ist doch in Ordnung hier, nicht zu klein, nicht zu groß. Hier kann man sich wohl fühlen. Das ist Rickey!

Isensee: Er vereint in sich viele Attribute, die wir als typisch für diese Stadt empfinden. Er spielt das nicht, er ist einfach so.

Einige werfen ihm vor, dass er in Interviews nicht Deutsch spricht.

Rosenbohm: Na ja, das kann man wohl vernachlässigen. Sicherlich hätte das so einen zusätzlichen sympathischen Dreh, wenn er die Interviews auf Deutsch geben würde. Aber mit Vorwürfen in die Richtung sollte man souverän umgehen.

Von Seggern: Die Tatsache, dass seine drei Kinder Oldenburger sind und perfekt Deutsch sprechen, und das Ehepaar Paulding darauf Wert legt, spricht ja wohl eher für ihn als gegen ihn. Da ist jemand multikulturell veranlagt und - wenn wir über Marketing sprechen wollen - der großartige Werbung für die Stadt gemacht hat.

Christopher und Torben, ihr habt Rickey über einen sehr langen Zeitraum beruflich begleitet. Was konnte Euch denn noch Unbekanntes über einen begegnen, wenn man doch glaubt, über denjenigen doch eigentlich schon alles zu wissen?

Deeken: Ab 2012 habe ich Rickey beruflich begleitet und war entsprechend eng dran an ihm und den Baskets. Von daher war die Beschreibung seiner ersten fünf Jahre für mich schon am anspruchsvollsten in der Umsetzung. Mein Ansatz war es ja, ein wenig mehr zu erzählen als man ohnehin schon weiß. Dafür musste ich viele Gespräche führen und dabei habe ich dann einige Dinge erfahren, die mir noch nicht bekannt waren. Unter anderem hat Hermann Schüller mir das erzählt: Beim Final Four der EuroChallenge 2013 in Izmir war Rickey angeschlagen für das Spiel um Platz 3 nicht einsatzfähig. Er war so frustriert, dass er die Kabine in einen Nebenraum verließ und dort akustisch deutlich wahrnehmbar einen Stuhl zerlegte. Das passte so gar nicht in mein Bild von dem immer beherrscht auftretenden Rickey. Das war neu für mich. Und seine persönlichen Schicksalsschläge, die während seiner Karriere nicht bekannt geworden sind. Kara hat mir berichtet, dass in gewissen Phasen seine Leistung darunter gelitten habe und die Leute sich dachten: Was ist denn mit Rickey los?

Er ist ja nie mit sowas hausieren gegangen.

Deeken: Richtig. Im Jahr nach der Meisterschaft beispielsweise musste die Familie ein paar Schicksalsschläge wegstecken. Das war bislang nicht bekannt.

Rosenbohm: Ich habe nicht allzu viel Neues herausgefunden, was natürlich daran liegt, dass ich zum Zeitpunkt von Rickeys Verpflichtung schon in diesem Club gearbeitet habe. Glücklicherweise habe ich ihn nach meinem Ausscheiden bei den Baskets als Journalist weiterhin beruflich begleitet und war somit weiterhin gut im Bilde, was bei ihm so abgeht.

Florian, der Isensee-Verlag, gegründet 1892, hat eine lange Tradition. Auf der Website des Verlags ist über das in den 1960er Jahre selbstgesteckte Ziel zu lesen: „Die historischen und kulturellen Eigenheiten des ehemaligen Großherzogtums Oldenburg verlegerisch zu bewahren.“ Wie oft hat sich Dein Verlag mit Protagonisten aus dem Sport befasst? Was ist aus Verlegersicht das Außergewöhnliche an diesem Buch? Wie passt dieses Buch da rein?

Isensee: Es passt sehr gut da rein! Das Großherzogtum spielt natürlich nicht mehr in vielen Köpfen eine Rolle. Man hat eher eine diffuse Vorstellung von Oldenburg und seinem Umland. Nicht in jedem Zipfel, der mal zum Großherzogtum gehörte, fühlt man sich noch Oldenburgisch. Da sind Veränderungsprozesse, die wir begleiten. Wir blicken über den Tellerrand hinaus und wenn wir über diese Grenzen hinaus gehen, ist das kein Sakrileg sondern mittlerweile ganz normale Verlagsarbeit. Was Sportgeschichte anbelangt, haben wir bislang tatsächlich wenig gemacht. So viele Heldengeschichten gibt es bei uns nicht zu erzählen. Deshalb ist dieses Buch so spannend, weil es ein Oldenburgisches Thema ist. Ein Amerikaner wird Oldenburger, also eine Integrationsgeschichte, die man so schon hätte erzählen können. Es ist zudem die Erfolgsgeschichte der EWE Baskets, die ich mir niemals so hätte vorstellen können. Deutsche Meisterschaft! In diese wachsende Basketball-Geschichte in Deutschland sind wir als Oldenburger mit reingegangen. Der Standort Oldenburg ist bundesweit über Jahrzehnte betrachtet ein ganz wichtiger Faktor für die Entwicklung dieser Sportart in Deutschland. Und so ist es nicht nur ein Stück Sportgeschichte sondern ein Stück Stadtgeschichte.

Von Seggern: Oldenburg war bis vor 25, 20 Jahren eine arme Stadt. Das diese Stadt im Nordwesten als sowas wie der leuchtende Stern wahrgenommen wird, das war damals alles noch komplett anders.

Meinst Du arm im Sinne von wirtschaftlich arm?

Von Seggern: Es gab keine vernünftigen Sportstätten. Die Basketballer am Haarenufer, die Handballerinnen in einer Schulhalle und das Donnerschwee Stadion war einfach marode. Da war das Millerntor in Hamburg in seiner schlimmsten Phase im Vergleich noch ein High-End-Stadion. Dann kommen die EWE Baskets und bringen ein ganz anderes Verständnis zum Profi-Sport in diese Stadt und wie sich ein Club entwickeln muss und professionalisiert. Da ist Rickey eine Schlüsselfigur. Das taugt, um einem breiteren Publikum die Geschichte von einem zu erzählen, der einfach hierbleibt. Obwohl das für dieses Profi-Geschäft einfach ungewöhnlich ist. Man merkt: Sport ist einfach ein Gewinn für die Stadt! Das hat Strahlkraft. Nicht umsonst kamen so Größen wie Julius Jenkins, Chris Kramer, Philipp Schwethelm, Will Cummings, Karsten Tadda, Rasid Mahalbasic und nun ein Pedro Calles, der bestimmt von vielen Clubs stark umworben wurde.

Isensee: Das ist stark identitätsstiftend. Rickey hat an dieser Identität einen ganz großen Anteil. Mittlerweile hat das Ganze eine Traditionslinie erreicht. Vorher wünschte man sich immer so viele Dinge und dann kriegst Du plötzlich einen Rickey geschenkt. Die EWE Baskets und Rickey haben der Stadt eine Deutsche Meisterschaft geholt. Und vergleichbare Städte wie Ulm oder Bonn werden vermutlich ewig darauf warten oder diesen Titel nie erringen. Ich weiß noch, wie uns damals die Gießener, mehrfacher Meister an einem Traditionsstandort, in unserer eigenen Halle hämisch zuriefen: „Ihr werdet nie Deutscher Meister!“ Diesen Gesang kann man uns jetzt nicht mehr um die Ohren hauen!

 

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